FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher hat mit „Ego. Das Spiel des Lebens“* ein neues, bereits an einigen Stellen diskutiertes Buch herausgebracht, das sich nach „Payback“ mit ansatzweise verwandten Themen des Vorgängers beschäftigt: Computer, Finanzmärkte, Algorithmen und Kapitalismuskritik. (Und, immer auch, der Ausblick auf die Apokalypse.) Auf Amazon wird der Inhalt des Buches so beschrieben:
Dieses Buch erzählt davon, wie nach dem Ende des Kalten Kriegs ein neuer Kalter Krieg im Herzen unserer Gesellschaft eröffnet wird. Es ist die Geschichte einer Manipulation: Vor sechzig Jahren wurde von Militärs und Ökonomen das theoretische Model eines Menschen entwickelt. Ein egoistisches Wesen, das nur auf das Erreichen seiner Ziele, auf seinen Vorteil und das Austricksen der anderen bedacht war: ein moderner Homo oeconomicus. Nach seiner Karriere im Kalten Krieg wurde er nicht ausgemustert, sondern eroberte den Alltag des 21. Jahrhunderts. Aktienmärkte werden heute durch ihn gesteuert, Menschen ebenso. Er will in die Köpfe der Menschen eindringen, um Waren und Politik zu verkaufen. Das Modell ist zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden. Der Mensch ist als Träger seiner Entscheidungen abgelöst, das große Spiel des Lebens läuft ohne uns.
Lesen werde ich das Buch nicht. Denn alles, was ich über Frank Schirrmachers Verständnis von den Themen des neuen Buches wissen muss, steht in dieser Aussage aus einem Interview zum Buch mit dem Deutschlandfunk:
Kaess: Da passt das jetzt gar nicht so schlecht in diesen Zusammenhang, das Thema Ihres neuen Buches, das eine radikale Kritik ist am modernen Homo oeconomicus, der nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und die totale Ökonomisierung unseres Lebens. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Schirrmacher: Weil ich jetzt selber dem überall begegne. Wenn Sie sich zum Beispiel anschauen, es gibt ja eine sehr beliebte modernere Theorie, die sogenannte Verhaltensökonomie, die bestsellerträchtig auch, werden ganz banale Lebensfragen gestellt, zum Beispiel: Ist es sinnvoll, eine Strafe zu erheben, wenn man sein Kind zu spät vom Kindergarten abholt? Und dann wird darüber nachgedacht, nein, das ist nicht gut, denn wenn die Strafe zu gering ist, sagen die Eltern, das ist es mir wert, und so weiter. Diese Ökonomisierung, noch von den kleinsten menschlichen und sozialen Fragen, die wir jetzt haben, wie bringt man Leute dazu, damit sie einen Vorteil bekommen, bestimmte Dinge zu machen, war eigentlich der Auslöser, verbunden natürlich mit der großen Eurokrise, die das Gleiche, nur auf größerem Niveau, ist.
Da hat Schirrmacher anscheinend einiges missverstanden. Die Verhaltensökonomie zerlegt eben gerade die machinenartige ökonomische Vision des Homo oeconomicus der Neoklassik und zeigt sie als das realitätsferne Bild auf, das sie ist. Das steht sogar im ersten Absatz in der Wikipedia zur Verhaltensökonomie.
Aber, schlimmer noch, er scheint gar kein großes Interesse daran zu haben, das alles tatsächlich verstehen zu wollen. (Das bekannte „sogenannt“-Indiz.)
Wenn Schirrmacher sich mit der Verhaltensökonomie näher beschäftigen würde und die dortigen Erkenntnisse zum Beispiel auf durch das Internet ausgelöste/möglich gewordene Vorgänge übertragen würde, würde er allerdings näher bei zum Beispiel Yocha Benkler oder Clay Shirky landen als ihm, dem Morozov-Verehrer, wahrscheinlich lieb wäre.
Yochai Benkler hat sich just letztes Jahr in seinem ersten Buch nach dem Monster „The Wealth of Networks“ mit eben diesen Themen beschäftigt: The Penguin and the Leviathan: How Cooperation Triumphs over Self-Interest*
Eine vernichtende Kritik des vorhergehenden Buches von Frank Schirrmacher findet man im Blog des Merkur. (via Bildblog)
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Maik says
nur mal zur Klarstellung: Einem Modell realitätsferne zu unterstellen ist billiger Populismus. Das liegt schon in der Natur des Modells. Ein Modell ist immer realitätsfern, sonst wäre es kein Modell sondern die Realität. Die Verhaltensökonomie basiert ebenfalls auf Modellen, ist dementsprechend also auch realitätsfern. Die Verhaltensökonomie versucht des weiteren nicht (unbedingt) die Neoklassik zu „zerlegen“, sondern zu ergänzen. Das steht im ersten Absatz des Wikipediaartikels ;-)
Die meiste Kritik am homo oeconomicus basiert i.d.R. auf einer zu engen (und eigentlich sogar falschen) Definition des homo oec. In das Modell des homo oec. kann man so gut wie alles reinmodellieren, bis hin zu altruistischem Verhalten, sogar Gerechtigkeitsempfindungen wären möglich.
Die Suche nach mehr realitätsnähe ist zwar schön, mitunter aber ineffizient. Wenn mehr realitätsnähe keine „besseren“ Erkenntnisse bringt, dann kann man es auch lassen.
Die Verhaltensökonomie widerlegt also nicht unbedingt den homo oeconomicus. Sie zeigt im Gegenteil Lücken auf, die die Neoklassik noch nicht modelliert hat, aber nun durchaus könnte. Manches ergänzt auch die Neoklassik, die diese nie untersuchen könnte, aber widerlegt wird die Neoklassik keineswegs dadurch.
Klothilde says
Mir kommt es arrogant vor zu sagen: „Ich habe das Buch nicht gelesen.“ Und die nächsten Absätze des eigenen Blog-Eintrags darauf zu verwenden, eben dieses ungelesene Buch und seinen Autor zu verreißen.
Marcel Weiss says
Ich habe nicht das Buch verrissen. Ich habe mich auf eine Aussage aus einem Interview bezogen.
Marcel Weiss says
Natürlich ist jedes Modell weil es ein Modell ist nicht 1:1 wie die davon abgebildete Realität. Das ergibt sich von selbst und war zumindest für mich recht offensichtlich nicht das, was ich meinte. Modelle kann man danach bewerten, wie gut sie Vorgänge in der Welt vorhersagen können. Wie gut sie also die Mechaniken abbilden. Manches Modell macht das besser als ein anderes.
Der homo eoconomicus und die Neoklassik z.B. funktionieren als Modell in manchen, bei weitem nicht in allen, Situationen relativ gut für die Entscheidungsfindung von und Interaktionen zwischen Unternehmen aber nur sehr schlecht für Einzelpersonen. Und warum das so ist, hat Benkler im genannten Buch recht gut herausgearbeitet. Und nein, man kann Altruismus etc. nicht einfach in das homo-oeconomicus-Modell internalisieren.
Und ja, die Verhaltensökonomik ergänzt die Neoklassik an manchen Stellen, an anderen widerlegt sie sie aber recht offensichtlich.
Maik says
Die Aussage „Die Verhaltensökonomie zerlegt eben gerade die machinenartige ökonomische Vision des Homo oeconomicus der Neoklassik und zeigt sie als das realitätsferne Bild auf, das sie ist.“ ist meiner Ansicht nach schon ein ziemlicher Zerriss – zumindest aber sehr missverständlich ausgedrückt, wenn es nicht in dieser Intention gemeint war.
Auch dass die Neoklassik die Entscheidungsfindung von Individuen nur sehr schlecht abbilden kann, halte ich für eine gewagte These. Ich glaube, dass man sehr viel mit schnöder neoklassischer Theorie erklären kann (auch eine gewagte These, ich weiß)
Und natürlich kann ich Altruismus etc. in das h.oec. Modell intgrieren, warum nicht? Warum kann ich nicht in die Nutzenfunktion (oder die Nebenbedingung) die Einkommensverteilung integrieren? Ich kann die Lebensbedingungen von Hühnern (für die relevante Entscheidung bzgl Geflügelprodukten) integrieren. Ich kann Deinen Nutzen in meine Nutzenfunktion integrieren. Der Phantasie sind da überhaupt keine Grenzen gesetzt. ;-)